Nachfolgend wollen wir Ihnen die wichtigsten Änderungen, Ergänzungen sowie die neuen Tolerierungsmöglichkeiten von ISO 5459:2024 vorstellen aber z. T. auch kritisch bewerten:
- Die Zielfunktion für die Assoziation bei der Bildung eines Einzelbezugs wurde für nominell ebene Flächen auf L2 („Gauss“) mit äußerer Materialbedingung geändert (Default-Operator [GE], bislang [CE]). Um die funktionalen Anforderungen bei der Bezugsbildung besser zu simulieren und die Reproduzierbarkeit der Messergebnisse zu verbessern, wird für nominal ebene Flächen als Einzelbezug zusätzlich ein standardmäßiges morphologisches Hüllfilter [EM] festgelegt. Diese Änderungen sollten ab sofort in der Qualitätssicherung bekannt sein und – falls nicht anderweitig vereinbart – entsprechend umgesetzt (verifiziert) werden.
- Mit Einführung von ISO 5459:2024 besteht die Möglichkeit des Aufbaus eines Bezugskoordinatensystems (Regeln und Symbolik), welches sich an den Situationselementen der assoziierten Flächen eines dem Bezugskoordinatensystem zugrunde liegenden (vollständigen) Bezugssystems orientiert. Somit ist es nunmehr möglich, einzelne Freiheitsgrade (translatorische längs und rotatorische um die jeweiligen definierten Koordinatenachsen) der Referenzgeometrieelemente (tolerierten Nenngeometrieelemente) freizugeben. Mit diesen „Werkzeugen“ werden neue Tolerierungsmöglichkeiten eröffnet und zwar dahingehend, dass nunmehr funktionale Anforderungen beschrieben werden können, die alleine durch pauschale Freigabe der translatorischen Freiheitsgrade oder durch gezielte Auswahl von Situationselementen der assoziierten Flächen bislang nicht beschrieben werden konnten (siehe Abbildung). In unseren Vertiefungsseminaren werden wir Ihnen anhand konkreter praktischer Beispiele die korrekte Anwendung aufzeigen.
- Situationselemente können nunmehr mit der in ISO 5459:2024 zur Verfügung gestellten Symbolik explizit in der Technischen Produktdokumentation visualisiert und dem jeweiligen Bezug zugeordnet werden. Dies ist im Sinne der Vermeidung von Fehlinterpretationen immer dann empfehlenswert, falls zur Beschreibung funktionaler Anforderungen Freiheitsgrade über das gezielte Auswählen einzelner Situationselemente (Modifikatoren [PT], [SL], [PT]) reduziert werden müssen (Situationselemente sind in der Regel nicht intrinsisch festgelegt). Auch die Symbolik zur visuellen Darstellung von Situationselementen ist nunmehr in Übereinstimmung mit ISO 128-2 in ISO 5459:2024 explizit festgelegt.
- ISO 5459:2024 enthält explizite Syntaxregeln für die Reihenfolge der Festlegung von Modifikatoren im Bezugsfeld des Toleranzindikators. Dies war in ISO 5459:2011 nicht eindeutig geregelt.
- ISO 5459:2024 bietet die Möglichkeit der indirekten Angabe eines Bezugssystems. Dies vereinfacht gegebenenfalls nicht nur die Produktspezifikation (da der Toleranzindikator nur noch ein Bezugsfeld beinhaltet), sondern erlaubt auch Bezugssysteme zu „verschachteln“, d. h. Bezugssysteme in andere Bezugssysteme zu integrieren, falls dort noch nicht alle nicht-redundanten Freiheitsgrade der Referenzgeometrieelemente bereits blockiert wurden. Dadurch können Funktionsanforderungen in GPS-Operatoren „übersetzt“ und Aufgaben gelöst werden, welche mit ISO 5459:2011 (zurückgezogen) bislang nicht lösbar waren.
- In Zusammenhang mit der Kennzeichnung von Bezugselementen erlaubt es die Bezugssymbolik in ISO 5459:2024 nunmehr im angrenzenden Anzeigebereich des Bezugssymbols zusätzliche Festlegungen zu treffen (z. B. Festlegung von Teilbereichen für die Bezugsbildung). Dies war auch bereits mit der zurückgezogenen ISO 5459:2011 möglich, dort aber nicht explizit beschrieben.
- Falls vom standardmäßigen Assoziationskriterium für die assoziierten Flächen in Zusammenhang mit der Bezugsbildung abgewichen werden soll, werden in ISO 5459:2024 in Übereinstimmung mit ISO 4351 Modifikatoren (Spezifikationselemente) für die Zielfunktion sowie für die Materialbedingung bzw. den Materialversatz zur Verfügung gestellt. Bei der Anwendung muss allerdings zwingend darauf geachtet werden, dass keine Widersprüche erzeugt werden.
- Mitunter soll bei der Bezugsbildung vom standardmäßigen Spezifikationsoperator abgewichen und ein zeichnungsspezifischer Spezifikationsoperator für Bezüge festgelegt werden. Ein zeichnungsspezifischer Spezifikationsoperator für Bezüge kann in oder in der Nähe des Zeichnungsschriftkopfes durch die Angabe „DS ISO 5459“, gefolgt von einer Information zur Filterung und zum Assoziationskriterium erfolgen. Soll - soweit kein individueller Spezifikationsoperator im Bezugsfeld des Toleranzindikators nach dem Bezugsbuchstaben festgelegt ist - beispielsweise als zeichnungsspezifischer Spezifikationsoperator für Bezüge ein morphologisches Filter (Opening-Filter) unter Anwendung einer Kugel mit einem Durchmesser von 0,9 mm als strukturierendes Element und als Assoziationskriterium eine Volumenminimierung mit einem Versatz entsprechend einem Materialanteil von 75% zur Anwendung kommen, dann lautet die Angabe: DS ISO 5459[CB0,9-][KM75%].
- Wird ein Bezug aus einem linearen Größenmaßelement oder aus einem Winkelgrößenmaßelement gebildet, dann kann die Nebenbedingung des Größenmaßes des Assoziationskriteriums variabel (variables lineares Größenmaßelement oder variables Winkelgrößenmaßelement) oder fest (festes lineares Größenmaßelement oder festes Winkelgrößenmaßelement) sein. In der zurückgezogenen ISO 5459:2011 war für lineare Größenmaße bekanntermaßen das lineare Größenmaß stets variabel (in der Regel Smin- bzw. Smax-Funktion), in Zusammenhang mit Winkelgrößenmaßelementen war das lineare Größenmaß bei der Assoziation idealer Flächen zur Bildung des Bezugs hingegen stets fest und zwar unabhängig von der Spezifikation in der Technischen Produktdokumentation. Gemäß ISO 5459:2024 ist der „Größenmaßstatus“ (fest oder variabel) nunmehr abhängig von der Spezifikation des Größenmaßes in der Technischen Produktdokumentation, falls keine Modifikatoren ([SV] oder [SF]) dem Bezugsbuchstaben im Toleranzindikator nachgestellt sind.
- Das lineare Größenmaß bzw. das Winkelgrößenmaß ist als variabel zu betrachten, falls das Bezugssymbol mit einer Maßlinie in Zusammenhang
- mit einem Nenngrößenmaß ergänzt durch ein Grenzabmaß (alternativ einem ISO-Toleranzcode für lineare Größenmaße) oder
- mit einem Nenngrößenmaß ohne Toleranz, jedoch indirekt über eine Allgemeintoleranznorm
verknüpft ist.
Das lineare Größenmaß bzw. das Winkelgrößenmaß ist als fest zu betrachten, falls das Bezugssymbol
- mit einer Maßlinie in Zusammenhang mit einem expliziten theoretisch exakten Maß (TED-Maß) oder
- mit einer Maßlinie ohne Zahlenwert für die Dimension aber mit Verweis auf einen CAD-Datensatz (implizites TED-Maß)
verknüpft ist.
Bei linearen Größenmaßelementen ist dabei zu beachten, dass bei der Assoziation mit einem festen linearen Größenmaß keine Materialbedingung zur Anwendung kommen darf, da ansonsten ein Widerspruch entstehen würde. Ferner ist zu beachten, dass eine explizite Maßangabe Vorrang vor einer impliziten Maßspezifikation (Verweis auf den CAD-Datensatz) hat.
Damit die Verwirrung für den Anwender vollends komplett ist, gilt ferner: Ist das Bezugssymbol mit einer Maßlinie in Zusammenhang mit einem Hilfsmaß (Maß in runden Klammern) oder gänzlich ohne Maßangabe (auch kein Verweis auf einen CAD-Datensatz) verknüpft, dann ist das das Größenmaß bei linearen Größenmaßelementen als variabel, bei Winkelgrößenmaßelementen hingegen als fest zu betrachten.
Die oben genannten Regelungen für den "Größenmaßstatus" eines Größenmaßelements sind für die Tolerierungspraxis unbrauchbar und sollten zwischen den Vertragspartnern gegebenenfalls außer Kraft gesetzt werden, da:
- in Zusammenhang mit der zunehmend Modellbasierten Produktdefinition (MBD) Verweise auf den CAD-Datensatz (und damit indirekte TED-Maße) nahezu in jeder Spezifikation zu finden sind und daher auch für Bezugselemente vielfach nicht mehr die Notwendigkeit besteht, ein Nenngrößenmaß mit Toleranz zu spezifizieren. Für Größenmaßelemente ist somit das Größenmaß als fest zu betrachten. Somit nähert zumindest für lineare Größenmaßelemente das Assoziationskriterium die funktionale Realität nur unzureichend an. In Konsequenz besteht für diese Fälle die Notwendigkeit den Modifikator [SV] dem Bezugsbuchstaben im Toleranzindikator nachzustellen,
- Anwendungsfälle denkbar sind, bei denen das Größenmaß eines Größenmaßelements sowohl durch ein explizites TED-Maß (beispielweise in Zusammenhang mit einer Flächenprofiltoleranz) und zusätzlich aufgrund funktionaler Anforderungen durch ein Nenngrößenmaß mit direkter oder indirekter Toleranz toleriert wird. In diesem Fall entsteht ein Widerspruch in der Spezifikation,
- Bezüge i. d. R. ein ideales von außen angrenzendes Nachbarbauteil simulieren sollen. Wird ein Bezug aus einem linearen Größenmaßelement mit festem Größenmaß für das assoziierte Geometrieelement gebildet, dann kommt keine Materialbedingung zur Anwendung. Dieser häufig vorkommenden Fall entspricht nicht dem funktionalen Zweck der Bezugsbildung.
Die Änderungen und Ergänzungen sowie die neuen Regeln in ISO 5459:2024 sind mitunter komplex, teilweise widersprüchlich und haben nicht unerhebliche Auswirkungen insbesondere auf die Praxis der Richtungs- und Ortstolerierung. Wir werden in unseren kommenden Vertiefungsseminaren (beispielsweise unser nächstes offenes Vertiefungsseminar am 14./15.11.2024 in unserem Seminarzentrum in Stuttgart) auf diese Änderungen, deren Konsequenzen und den praktischen Umgang mit ISO 5459:2024 eingehen und Ihnen praktikable Möglichkeiten zur praktischen Umsetzung aufzeigen.
Vorschau auf die neue ISO 14405-1 (derzeit Normentwurf)
Die neue ISO 14405-1 (Dimensionelle Tolerierung – Lineare Größenmaße) ist zwischenzeitlich als Entwurf veröffentlicht. Gegenüber ISO 14405-1:2016 sind eine Reihe von Änderungen aber auch einige Klarstellungen und Syntaxregeln zu erwarten. Die Anzahl der Größenmaßelemente für die explizit ein Spezifikationsoperator definiert ist, wurde eingeschränkt. Die Anwendungsmöglichkeiten von ISO 14405-1 zur Beschreibung funktionaler Anforderungen sind damit zwar geringer geworden, aber der Tatsache geschuldet das für einige noch in ISO 14405-1:2016 genannten Größenmaßelemente kein vollständiger Spezifikationsoperator existiert hat (siehe hierzu ISO 17450-3). Wir werden Sie nach Veröffentlichung der Norm über die Änderungen und Ergänzungen rechtzeitig informieren.