Mit der Einführung von ISO 22081 (derzeit Normentwurf; ISO/DIS 22081:2019) beginnt eine neue Ära der Allgemeintolerierung verbunden mit einer signifikanten Vereinfachung technischer Produktspezifikationen sowie einer damit einhergehenden Verminderung des Prüfaufwandes.
Mit Hilfe von ISO 22081 wird es möglich sein, Produktspezifikationen aber auch den Konformitätsnachweis nochmals signifikant zu vereinfachen und damit auch alle nicht funktionsrelevanten Merkmale unter Berücksichtigung fertigungstechnischer (z. B. Stanzen) und/oder werkstoffphysikalischer (z. B. Kunststoffe) Besonderheiten eindeutig und vollständig zu beschreiben.
Nachfolgend möchten wir Ihnen die wesentlichen Inhalte sowie die richtige Anwendung von ISO 22081 aufzeigen. Wir möchten Ihnen aber auch erläutern, worauf Sie bei der Anwendung dieser Norm besonders achten müssen und auf welche Weise die Norm an das jeweilige Fertigungsverfahren und ggf. den verwendeten Werkstoff (Metall oder Kunststoff) angepasst wird.
Wir werden ab sofort in allen unseren offenen Seminaren (beginnend am 09. und 10.10.2019 mit unserem offenen Basisseminar zu „Form- und Lagetoleranzen“) sowie auf Wunsch auch in unseren Inhouse-Seminaren die Anwendung von ISO 22081 vorstellen und mit Ihnen diskutieren.
Ausgangssituation
Seit vielen Jahrzehnten sind Allgemeintoleranznormen auf Basis einer „Plus-Minus-Tolerierung“, wie zum Beispiel ISO 2768-1 und -2 oder DIN 16742 bzw. ISO 20457 ein integraler Bestandteil technischer Produktdokumentationen. Noch heute ist die Meinung, mit Hilfe dieser Allgemeintoleranznormen könne ein Produkt hinsichtlich der zulässigen Abweichung von seinem idealen Zustand vollständig beschrieben werden, weit verbreitet. Das ist grundsätzlich und nachweislich falsch. Mit einer Allgemeintoleranznorm auf Basis von „Plus-Minus-Toleranzen“ kann ein Produkt weder eindeutig noch vollständig beschrieben werden!
Den meisten Zeichnungserstellern ist auch mehr als 10 Jahre nach der weltweiten Einführung des GPS-Normensystems der ISO noch immer nicht bewusst, dass die Vereinbarung einer nicht mit dem ISO-GPS-Regelwerk konformen Allgemeintoleranznorm auf Basis einer „Plus-Minus-Tolerierung“ zu Spezifikationsmehrdeutigkeiten führt und somit einen großem Interpretationsspielraum für alle Anwender öffnet. Weiterhin weisen alle derzeit veröffentlichten, nicht dem ISO-GPS-Normensystem zugehörigen Standards zur Allgemeintolerierung teilweise erhebliche Lücken auf, sodass hierdurch die zulässige Abweichung des gefertigten Produkts von seinem geometrisch idealen Zustand nicht vollständig beschrieben werden kann. Aus diesem Grund werden diese Normen, wie z. B. ISO 2768-1 und -2 (Rückzug der Norm steht in der Diskussion) nach und nach ersatzlos zurückgezogen bzw. die Anwendung ist weitgehend nutzlos. Für eine zunehmende globale Zusammenarbeit und Outsourcing sind grundsätzlich vollständige und eindeutige Produktdokumentationen eine notwendige Voraussetzung.
Sinn und Zweck von ISO 22081
Mit Hilfe von Allgemeintoleranznormen auf Basis von „Plus-Minus-Toleranzen“ ist die digitale Transformation und Implementierung von Industrie 4.0 in der CAD‐CAM‐CAQ‐Prozesskette nicht möglich, da die im CAD-Datensatz erzeugten Toleranzinformationen in einer Messsoftware nicht sinnvoll und wirtschaftlich verarbeitet werden können. Die konsequente Anwendung von ISO 22081 ist somit notwendige Voraussetzung für eine weitere Digitalisierung in der Produktentwicklung, Produktion und Qualitätssicherung.
Eine eindeutige Festlegung der zulässigen Abweichung des gefertigten Produkts (real) von seiner Nenngeometrie (ideal) ist nur mit Hilfe von dimensionellen Toleranzen (auf lineare Größenmaßelemente und Winkelgrößenmaßelemente anwendbar) sowie mit Hilfe von geometrischen Toleranzen (insbesondere Linien- bzw. Flächenprofil) möglich. Diesen Ansatz greift die derzeit im Entwurfsstadium vorliegende ISO 22081 („Allgemeine geometrische und Maßspezifikationen“) auf.
Wesentliche Inhalte und Anwendung von ISO 22081
ISO 22081 unterscheidet zwischen allgemeinen Maßspezifikationen und allgemeinen geometrischen Spezifikationen. Im Gegensatz zu den bisherigen Normen für die allgemeine Tolerierung (z. B. ISO 2768-1, -2, DIN 6930-1 oder ISO 20457) legt ISO 22081 keine Toleranzwerte fest, vielmehr ist nur noch das geometrische Merkmal Flächenprofil spezifiziert. Der Toleranzwert (konstante oder variable Weite der Toleranzzone für die Flächenprofilspezifikation) sowie das zwingend erforderliche vollständige Bezugssystem (Blockieren aller Freiheitsgrade der tolerierten nominale Geometrieelemente) müssen vom Anwender definiert werden.
Damit keine Mehrdeutigkeiten entstehen, müssen bei der Anwendung von ISO 22081 die nachfolgenden Ausschlusskriterien berücksichtigt werden (nur die wichtigsten Ausnahmen sind aufgezählt):
- ISO 22081 gilt nicht für integrale Geometrieelemente und alle aus integralen Größenmaßelementen abgeleitete Geometrieelemente mit einer individuellen geometrischen Spezifikation (direkt in der Technischen Produktdokumentation oder indirekt durch CAD-Attribute im digitalen Datensatz für die Produktdefinition festgelegt).
- ISO 22081 gilt nicht für lineare Größenmaßelemente oder Teilbereiche von linearen Größenmaßelementen, welche einer allgemeinen Maßspezifikation unterliegen oder eine individuelle Maßspezifikation aufweisen (direkt in der Technischen Produktdokumentation oder indirekt durch CAD-Attribute im digitalen Datensatz für die Produktdefinition festgelegt),
- ISO 22081 gilt nicht für Bezugselemente, die im Bezugsfeld des Toleranzindikators der allgemeinen geometrischen Spezifikation festgelegt sind.
Somit kann ISO 22081 nur (sinnvoll) angewandt werden, sofern die Produktspezifikation bereits eindeutig und vollständig ist und mit Hilfe dimensioneller und geometrischer Toleranzen ausnahmslos nach den Grundsätzen des GPS-Normensystems der ISO aufgebaut ist. Auf veraltete und nicht mehr dem Stand der Technik basierende „Plus-Minus-Spezifikationen“ ist die Norm nicht anwendbar.
Bei der Anwendung allgemeiner Spezifikationen nach ISO 22081 ist zu beachten, dass die folgenden Besonderheiten nicht erfasst und daher vom Anwender festzulegen sind:
- Fertigungstechnische Besonderheiten, wie z. B. der Einzugs- oder Ausbruchbereich sowie der Gratzustand bei Stanzteilen.
- Werkstoffphysikalische Besonderheiten, wie zum Beispiel die Schwindung von Kunststoff-Formteilen (und damit die Notwendigkeit zur Spezifikation variabler Toleranzen).
- Konstruktive Besonderheiten, wie zum Beispiel „Wanddicken“.
Beispiel: Kunststoff-Formteile
Bei Kunststoff-Formteilen ist, bedingt durch Schwindungseffekte eine feste Weite der Toleranzzone für die Flächenprofilspezifikation in der Regel nicht sinnvoll, da die relative Veränderung des Ortes zweier Geometrieelemente auf dem Bauteil nicht konstant, sondern abhängig von deren Entfernung ist. Einem Ansatz von ISO 20457 (DIN 16742) folgend, wird in diesem Fall ein vollständiges Bezugssystem definiert und eine variable Weite der Toleranzzone festgelegt. Als Parameter kann hierbei beispielsweise die kürzeste Entfernung vom Bezugssystem (Koordinatenursprung) zum entsprechenden Geometrieelement dienen.
Da es den Rahmen dieses Infobriefes sprengen würde, alle Details, die Anwendungsmöglichkeiten und Anwendungsgrenzen von ISO 22081 zu erläutern und insbesondere deren konkrete Anwendung unter Berücksichtigung fertigungstechnischer und werkstoffphysikalischer Besonderheiten aufzuzeigen, werden wir Ihnen – wie bereits oben erwähnt - ab sofort in unseren offenen Seminaren (beginnend am 09. und 10.10.2019 mit unserem offenen Seminar „Form- und Lagetoleranzen“) sowie auf Wunsch auch in unseren Inhouse-Seminaren die Anwendung von ISO 22081 vorstellen und diskutieren.
Ein sehr einfaches Beispiel (mechanisch bearbeitetes Bauteil) für eine vollständige Spezifikation unter Berücksichtigung der Grundsätze aus ISO 22081 sowie der funktionellen Anforderungen, zeigen die beiden nachfolgenden Abbildungen. In unseren Seminaren möchten wir Ihnen zusätzlich die deutlich komplexere Anwendung unter anderem auf Kunststoff-Formteile (variable, entfernungsabhängige, allgemeine Flächenformtoleranz) aufzeigen und erläutern.
Fazit:
- Die Anwendung von ISO 22081 erlaubt eine signifikante Vereinfachung von Produktdokumentationen einschließlich des Konformitätsnachweises (Verifikation) und vermeidet somit lückenhafte und mehrdeutige Spezifikationen.
- Die Anwendung von ISO 22081 im Kontext mit dem ISO-GPS-Regelwerk stellt die Konformität zu einschlägigen Qualitätsmanagementsystemen, wie z.B. ISO 9001, her und reduziert im Sinne der Eindeutigkeit Produkthaftungsrisiken.
- ISO 22081 definiert keine Toleranzwerte, sondern ist Teil eines Tolerierungskonzeptes und muss dementsprechend vom Anwender an das Produkt, insbesondere an die fertigungstechnischen sowie die werkstoffphysikalischen Besonderheiten angepasst werden.
- Die Anwendung von ISO 22081 ist nur auf Produktspezifikationen möglich, die bereits funktionelle Anforderungen konsequent auf Basis des GPS-Regelwerks der ISO beschreiben.
- Produktspezifikationen in Verbindung mit einer Allgemeintolerierung auf Basis von ISO 22081 sind eine notwendige Voraussetzung für die digitale Transformation und Implementierung von Industrie 4.0 in der CAD‐CAM‐CAQ‐Prozesskette. Somit ist die Anwendung von ISO 22081 als Teil des ISO-GPS-Normensystems nicht mehr verhandelbar und nicht mehr aufschiebbar.