Wie Sie wissen, waren Allgemeintoleranzen für Kunststoff-Formteile bis 2009 in DIN 16901festgelegt. Die Norm wurde bereits 1973 veröffentlicht und 1982 letztmals überarbeitet. DIN 16901 wurde im Oktober 2009 ersatzlos zurückgezogen, da sie:
- nicht mehr den Stand der Technik auf dem Gebiet der Formteilentwicklung repräsentiert hat,
- nicht mehr den Anforderungen der Praxis an die Maßhaltigkeit von Kunststoff-Formteilen gerecht wurde,
- nicht mit dem ISO-Toleranzsystem (ISO 286-1) kompatibel war.
2013 wurde die zum ISO-GPS-Normensystem in Teilen kompatible Nachfolgenorm DIN 16742 als Ersatz für DIN 16901 veröffentlicht. Wesentliche Teile von DIN 16742 wurden in die 2018 veröffentlichte Nachfolgenorm ISO 20457 (keine GPS-Norm der ISO) überführt. Analog zu DIN 16742:2013 hat ISO 20457:2018 drei thematische Schwerpunkte:
- Verwendung als Standard für die Allgemeintolerierung (indirekte dimensionelle Toleranzen) von Kunststoff-Formteilen für ausgewählte lineare Größenmaße.
- Verwendung als Standard für die Allgemeintolerierung (indirekte geometrische Toleranzen) von Kunststoff-Formteilen für die geometrischen Merkmale Position und Flächenprofil.
- Empfehlung technologisch und wirtschaftlich erreichbarer Toleranzen für die direkte Tolerierung.
Für die Anwendbarkeit von ISO 20457:2018 sind allgemein unter anderem die folgenden Voraussetzungen zu beachten:
- Die Nenngeometrie in Formteilzeichnungen oder digitalen CAD-Datensätzen muss so spezifiziert werden, dass die Toleranzen (Grenzabmaße und Toleranzzonen der geometrischen Tolerierung) symmetrisch zur Nenngeometrie sind.
- Formschrägen sind ein integraler Bestandteil der Formteilgeometrie und gehören somit zur Nenngeometrie gemäß Formteilzeichnung (ISO 10135) oder CAD-Datensatz (siehe auch VDA 4953).
- Falls das Kunststoff-Formteil nicht formstabil ist, müssen einschränkende Zusatzbedingungen gemäß ISO 10579 spezifiziert werden, da ansonsten standardmäßig der freie Zustand gilt (ISO 8015).
1. Anwendung von ISO 20457:2018 als Allgemeintoleranznorm für lineare Größenmaße
Vorab ist anzumerken, dass die Grenzabmaße für lineare Größenmaße von DIN 16742:2013 auf ISO 20457:2018, insbesondere im Nennmaßbereich ab 315 mm und in Toleranzgruppe 9, teilweise nicht unerheblich verändert wurden. Wir werden Ihnen die Unterschiede in unserem offenen Seminar am 06. und 07.03.2019 ("Kunststoff-Formteile fehlerfrei entwickeln und tolerieren") erklären.
Damit ISO 20457:2018 als Allgemeintoleranznorm zur Anwendung kommen kann, muss zunächst eine geeignete Toleranzgruppe (TG1 bis TG9) ermittelt und spezifiziert werden. Das Verfahren zur Ermittlung einer geeigneten Toleranzgruppe unter Berücksichtigung des Fertigungsverfahrens, physikalischer Eigenschaften des Kunststoffs, der Ausführung des Formwerkzeugs sowie des Spritzgussprozesses, wird in der Norm beschrieben. Da die richtige Wahl der Toleranzgruppe weitreichende Auswirkungen auf die Werkzeug- und Formteilkosten hat, werden wir Ihnen in unserem o. g. Seminar anhand ausgewählter Beispiele und Kunststoffe aufzeigen, worauf bei der Ermittlung der Toleranzgruppe besonders zu achten ist.
Bei der Anwendung von ISO 20457:2018 als Allgemeintoleranznorm für lineare Größenmaße ist unabhängig davon, zwingend zu beachten:
- Die Anwendung von ISO 20457:2018 als Allgemeintoleranznorm für die indirekte Tolerierung beschränkt sich auf (nicht tolerierte) lineare Größenmaße, da nur für Größenmaße von Größenmaßelementen Spezifikationsoperatoren im ISO-GPS-Normensystem existieren. Gegenüber den in ISO 14405-1 genannten linearen Größenmaßelementen erfolgt in ISO 20457:2018 jedoch eine weitere (nicht begründete) Einschränkung der Anwendbarkeit auf Kreiszylinder und Parallelebenenpaare. Aufgrund der an diesen Geometrieelementen meist vorhandenen Formschrägen ist jedoch eine Anwendung überhaupt nur dann möglich, falls Schnittebenen für die Verifikation definiert werden (Kegel und Keile sind keine linearen Größenmaßelemente!)
- ISO 20457:2018 darf nicht auf implizite Nennmaße angewandt werden, wie sie u. a. in CAD-Datensätzen beinhaltet sind. Selbst wenn die Voraussetzung nach Ziff. 1 (lineare Größenmaßelemente) erfüllt ist, so muss das (nicht tolerierte) Nennmaß explizit spezifiziert sein (ansonsten Spezifikationsmehrdeutigkeit). Da jedoch in zeitgemäßen GPS-basierten Formteilzeichnungen die Nenngeometrie vielfach in digitalen CAD-Datensätzen beschrieben wird, hat ISO 20457:2018 als Allgemeintoleranznorm nur eine ungeordnete oder keine nennenswerte Bedeutung.
- ISO 20457:2018 findet keine Anwendung auf Nicht-Größenmaße (ISO 14405-2:2012), da dies eine Spezifikationsmehrdeutigkeit hervorrufen würde, selbst dann nicht, falls die (nicht tolerierten) Nicht-Größenmaße explizit spezifiziert sind. Diese Einschränkung war auch bereits in DIN 16742:2013 beinhaltet, wurde in der Praxis jedoch häufig falsch angewandt. Da Nicht-Größenmaße von der Allgemeintolerierung ausgeschlossen sind, wäre die Einbeziehung von CAD-Daten gemäß Ziff. 2 für die Festlegung eines indirekt spezifizierten Grenzabmaßes jedoch durchaus möglich und würde die Anwendbarkeit von ISO 20457:2018 als Allgemeintoleranznorm erweitern. Diese Möglichkeit wird in der Norm derzeit jedoch nicht kommuniziert.
- Sind die Voraussetzungen nach Ziff. 1 erfüllt, dann sind stets die Grenzabmaße für nicht werkzeuggebundene Größenmaße vereinbart (Fußnote 5 in Tabelle 2 von ISO 20457:2018 beachten!) auch dann, wenn es sich um werkzeuggebundene Größenmaßelemente handelt.
2. Anwendung von ISO 20457:2018 als Standard für die Allgemeintolerierung von Kunststoff-Formteilen für die geometrischen Merkmale Position und Flächenprofil
Bei der Anwendung von ISO 20457 als Standard für die Allgemeintolerierung von Kunststoff-Formteilen für die geometrischen Merkmale Position und Flächenprofil muss darauf hingewiesen werden, dass die in der Norm beschriebene Vorgehensweise zum Teil zu nicht eindeutigen Ergebnissen führen kann und z. T. im Widerspruch zur Logik der geometrischen Tolerierung des ISO-GPS-Normensystems steht. Die Gründe sind unter anderem:
- Zur Ermittlung der Weite der Toleranzzone für Position und Flächenprofil ist die Ermittlung des Abstandsmaßes ("Dp-Maß") zwischen dem Koordinatenursprung des gewählten Bezugssystems und dem tolerierten Geometrieelement erforderlich. Die in ISO 20457:2018 anhand eines einfachen Beispiels (Anhang F) beschriebene Bezugsbildung ist jedoch in der dort beschriebenen Weise mehrdeutig und zwar aus den folgenden Gründen:
- Das zur Ermittlung des "Dp-Maßes" (legt die indirekt vereinbarte Weite der Toleranzzone fest) erforderliche Bezugssystem definiert ein kartesisches Koordinatensystem. Der Koordinatenursprung dieses Bezugssystems ergibt sich allerdings erst durch die Spezifikation des Bezugssystems selbst, keinesfalls gibt es hierzu eine Default-Festlegung (siehe auch ISO 5459:2011). Wird beispielsweise ein Bezugssystem A | B | C festgelegt, so ist nach derzeitiger ISO 5459:2011 kein eindeutiger Koordinatenursprung definiert, während bei der Spezifikation A | B - C der Koordinatenursprung des hierdurch festgelegten Koordinatensystems unter Umständen an jeder beliebigen Stelle in Raum liegen kann (abhängig vom geometrischen Typ der Bezugselemente). Ein "Dp-Maß" kann somit nicht eindeutig ermittelt werden.
- Wird hingegen ein Bezugssystem mit eindeutigem Koordinatenursprung festgelegt (z. B. A | (B-C) [DV][PL] | B mit Koordinatenursprung in „B“ oder A | (B-C) [DV][PL] | C mit Koordinatenursprung in „C“ dann ergeben sich für benachbarte Geometrieelemente mitunter unterschiedliche Toleranzen, abhängig von der relativen Lage des Koordinatenursprungs zum tolerierten Geometrieelement und somit ebenfalls eine Spezifikationsmehrdeutigkeit.
- Bei linearen Größenmaßelementen kann es zwischen der spezifizierten allgemeinen Profiltoleranz und der zugehörigen Positionstoleranz sowie der dimensionellen Toleranz für das Größenmaß selbst zu Widersprüchen kommen, da das tolerierte Geometrieelement (mittlere Linie) für die Positionstoleranz aus dem integralen Geometrieelement (Mantelfläche) abgeleitet wird (siehe auch ISO 17450-3). Im Sinne der Eindeutigkeit müssten Mantelflächen von linearen Größenmaßelementen explizit von der Profiltolerierung ausgeschlossen werden. Dies wird in ISO 20457:2018 nicht kommuniziert.
- „Wanddicken“ in der Größenordnung der spezifizierten Profiltoleranz müssen von der Tolerierung ausgenommen werden (siehe auch ISO 8062-4). In ISO 20457:2018 ist dies nicht der Fall, sodass (formal) „negative Wanddicken“ zulässig wären.
- ISO 20457:2018 lässt offen, ob die Anwendung von Tabelle 9 (Allgemeintoleranz für Position) und Tabelle 10 (Allgemeintoleranz für Flächenprofil) auch in Zusammenhang mit CAD-Daten Vertragsbestandteil ist (bei eindeutiger Festlegung eines vollständigen Bezugssystems formal möglich). Sollte dies nicht der Fall sein, dann hätte ISO 20457:2018 als Allgemeintoleranznorm für Position und Flächenprofil ebenfalls nur eine ungeordnete oder keine nennenswerte Bedeutung, da in zeitgemäßen GPS-basierten Formteilzeichnungen die Nenngeometrie in digitalen CAD-Datensätzen beschrieben wird.
3. Anwendung von ISO 20457 zur Ermittlung von Richtwerten technologisch und wirtschaftlich darstellbarer Toleranzen (Grenzabmaße für lineare Größenmaße) für die direkte Tolerierung
Die eigentliche "Stärke" von ISO 20457:2018 (wie auch der Vorgängernorm DIN 16742:2013) ist aus den oben genannten Gründen nicht die Bereitstellung von Allgemeintoleranzen für lineare Größenmaße sowie für die geometrischen Merkmale Position und Flächenprofil, sondern die Empfehlung technologisch und wirtschaftlich erreichbarer Toleranzen für die direkte Tolerierung. In unserem Seminar am 06. und 07.03.2019 werden wir Ihnen die richtige Anwendung an konkreten Praxisbeispielen und konkreten Kunststoffen aufzeigen.
4. Fazit
- Die Anwendung von ISO 20457:2018 als Allgemeintoleranznorm für lineare Größenmaße von Kunststoff-Formteilen beschränkt sich auf explizit spezifizierte lineare Größenmaße an Kreiszylindern und Parallelebenenpaaren. Da die Nenngeometrie heute jedoch weitgehend in digitalen CAD-Datensätzen spezifiziert ist und aufgrund des Vorhandenseins von Formschrägen zudem Messebenen festgelegt werden müssten, kann ISO 20457:2018 die zulässige Abweichung des gefertigten Formteils vom idealen Zustand nicht ausreichend beschreiben.
- Die Anwendung von ISO 20457:2018 als Standard für die Allgemeintolerierung von Kunststoff-Formteilen für die geometrischen Merkmale Position und Flächenprofil wirft eine Reihe ungeklärter Fragen auf. Um Widersprüche und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, sollte zur Diskussion gestellt werden ob, Abschnitt 7.2 von ISO 20457:2018 als Vertragsbestandteil auszuschließen ist und stattdessen eine allgemeine Profiltoleranz spezifiziert werden sollte (siehe auch unser Infobrief vom Januar 2019).
In unserem bereits oben erwähnten offenen Seminar zu "Kunststoff-Formteile fehlerfrei entwickeln und tolerieren" möchten wir Ihnen nicht nur die mitunter komplexen Zusammenhänge zwischen Formteilgestaltung, Werkstoffeigenschaften und -besonderheiten sowie des Spritzgießprozesses und der Werkzeugtechnologie auf die Maßhaltigkeit von Spritzgussteilen aufzeigen, sondern insbesondere auch auf die Inhalte und richtige Anwendung von ISO 20457:2018 eingehen, Ihnen aber auch die Anwendungsgrenzen sowie die Widersprüche zu ISO GPS aufzeigen.